Der „Fliegergarten“
Bis in die 1960er Jahre war ein großer Teil der Schönauer und Altenwendener Bevölkerung für diverse Grundnahrungsmittel noch weitgehend Selbstversorger. Dies galt insbesondere für Kartoffeln, Obst und Gemüse.
Nicht immer erlaubten die Eigentumsverhältnisse die Anlage großer Gärten auf dem Hausgrundstück. Einige Gemüsesorten – vor allem Weißkohl, Dicke Bohnen und Erbsen – wurden daher oft in „Feldgärten“, d. h. gesonderten Flächen innerhalb der Kartoffel- und Runkelrübenäcker angebaut, andere – wenn kein Hausgarten zur Verfügung stand – in einer Art „Kleingartenanlage“ in ortsnaher Lage. Auch Obstbäume (überwiegend Äpfel- und Pflaumen) und Beesträucher (Johannisbeeren, Stachelbeeren, Holunder) waren typisch für diese im Verbund liegenden Gartenparzellen.
Die zweckmäßige Gestaltung jener Gärten und die Nutzung ihrer Erzeugnisse gehörten zum selbstverständlichen Wissen in den Familien und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Wissen durch gezielte staatliche Förderung in Schulen und Landwirtschaftsschulen sowie durch die Verbreitung von Schrifttum gefördert. Auch konnte Saatgut für viele Gemüsesorten zunehmend über den Handel bezogen werden und versprach einen besseren Ertrag als das selbst gewonnene Saatgut der bislang kultivierten Sorten.
Einer der dorfnahen Gartenbereiche war der „Fliegergarten“. Die Bezeichnung „Fliegersgarten“ taucht erstmals in einer Katasterkarte von 1901 auf – zwei Jahre vor dem ersten Motorflug der Brüder Wright. Mit „Flieger“ in unserem heutigen Begriffsverständnis kann der Name also nichts zu tun haben, und eine Familie gleichen oder ähnlichen Namens ist in Schönau nicht nachweisbar.
Die plausibelste Erklärung für die Herkunft der Bezeichnung ist in der Wendener Mundart zu suchen. Die Vermesser und Beamten der Königlich preußischen Spezialkommission (frühere Bezeichnung der Flurbereinigungsbehörde) waren des Wendschen Platts nicht mächtig und versuchten, die Auskünfte der Bevölkerung über Ortsbezeichnungen so gut als möglich ins Hochdeutsche zu übertragen – was mitunter gründlich misslingen konnte. So wurde der „Vlierchoarn“ – „Vlier“ bezeichnet im Wendschen Platt (genau wie im Niederländischen) den Holunder – in der Katasterkarte zu „Fliegersgarten“. Bevor Stachel- und Johannisbeeren in größerem Umfang Einzug hielten, dürfte ein Holunderstrauch auf so mancher Parzelle im Fliegergarten gestanden haben, denn „Vliertee“ bzw. Holundersaft war ein bewährtes Hausmittel gegen Erkältungskrankheiten.
Es ist allerhöchste Zeit, dass die Erinnerung an ein Stück dörflicher Gartenkultur wieder lebendig wird:
- Wer hat noch Fotos aus dem alten Fliegergarten?
- Wer erinnert sich an die angebauten Arten, die eingesetzten Geräte und die Arbeitsabläufe im Jahr?
- Hat noch jemand alte „Saatzettel“ oder Rechnungen, aus denen die angebauten Sorten hervorgehen?
- Gibt es in Schönau und Altenwenden womöglich noch ein Exemplar des um 1900 weit verbreiteten Buchs „Der Küchen- und Blumengarten für Hausfrauen“ von Henriette Davidis?